Jenseit des Tweed
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Kapitel 4
Von Holyrood bis Edinburg-Castle
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Aus Holyrood-Palace heraustretend treten wir jetzt in den untern Teil jener hügelansteigenden, malerisch gelegenen Straße ein. Canongate, so geheißen, weil die Chorherren (Canons) von Holyrood die ersten Häuser hier aufführten, war vor drei Jahrhunderten der Lieblingssitz der Reichen und Vornehmen des Landes. Die unmittelbare Nähe des Palastes machte es, daß man diesem Faubourg selbst den Vorzug vor der stattlicheren High-Street gab.
 
Die alte Kirche von Canongate ist häßlich und interesselos,
 
und selbst die Grabsteine, die nach allen vier Seiten hin sie umlagern, weisen keinen einzigen Namen von Bedeutung auf.
 
Um den Namen Adam Smiths scheint diese Begräbnisstätte durch einen Zufall gekommen zu sein. Das Grab des Schöpfers der Nationalökonomie befindet sich seitab in einiger Entfernung vom Kirchhof. Der Verfasser des »Reichtums der Nationen«, der wie fast alle Nationalökonomen in der Verwaltung seiner eigenen Angelegenheiten hinter den bescheidensten Anforderungen zurückblieb, war unverheiratet, stand aber statt dessen unter der strengen Herrschaft einer Anverwandten, die ihm die Wirtschaft führte.
 
Unmittelbar neben der alten Kirche liegt das Gefängnis von Canongate, ein wenigstens um etwas bemerkenswerterer Bau, wenn auch nur seiner lateinischen Inschrift halber. Dieselbe lautet: »Sic itur ad astra«, als ob der Weg durch das Canongate-Gefängnis eine besondere Anwartschaft auf den Himmel böte. Niemand in Edinburg hat mir diesen Widersinn erklären können. Vielleicht, daß das Gebäude in alten Zeiten einem völlig verschiedenen Zwecke gedient hat.
 
Wir haben jetzt Canongate passiert, d. h. haben den am Hügelabhang liegenden Teil der großen Verbindungsstraße zwischen Holyrood-Palace und Edinburg-Castle hinter uns und treten jetzt in High-Street ein. An dieser Stelle nimmt die eigentliche Altstadt Edinburg ihren Anfang. Gleich das erste Haus, das wir zur Rechten haben, wo Canongate sich plötzlich in die breitere High-Street erweitert und dadurch eine Art Eckhaus bildet, ist ein Gebäude von hohem Interesse. In diesem Hause lebte John Knox. »Und dies dieselbe High-Street«, so sagten wir uns, »die der mutige Mann so oft und so freudig entlang schritt, um in der alten St.-Giles-Kirche den Zorn Gottes auf die 'Gottlosen' herabzurufen!«
 

»Und dies dasselbe Canongate«, so setzten wir hinzu, »das er zögernd hinabstieg, wenn es andern Tags galt, die Drohworte von St. Giles vor der Königin in Holyrood-Palace zu entschuldigen oder – zu wiederholen!«

Die Sehenswürdigkeiten des John Knoxschen Hauses bestehen aus drei Dingen: erstens aus dem kleinen Eckfenster im ersten Stock, von wo herab der Reformator häufig zu dem unten versammelten Volk gesprochen haben soll; zweitens aus einer Inschrift, die da lautet: »Love God above all and your neighbour as yourself« , und drittens aus einer bunt bemalten kleinen Holzpuppe, die sich unmittelbar neben jenem Eckfenster befindet und den Reformator selber, wie er zum Volke predigt, darstellen soll.

 

High-Street weiter hinaufgehend, haben wir jetzt, zumal wenn wir uns auf der rechten Seite der Straße halten, einen Überblick über die drei Kirchen, die den Weg von Canongate bis Edinburg-Castle in drei fast gleiche Teile teilen und nicht wenig zu dem malerischen Effekt der ganzen Stadt beitragen.

Vom Monumente Walter Scotts aus, wo High-Street und Canongate im Profile vor uns liegen und eine Seiten-Vue gestatten, ist dieser Effekt freilich am größten, aber auch en face die Straße hinansteigend, so bald wir nur die eine Linie vermeiden, auf der die erste Kirche (Tron-Church) die beiden andren deckt, genießen wir eines prächtigen Anblicks.

 

Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit Tron-Church und blicken nun, die Strecke bis zur St.-Giles-Kirche hinüberschauend, in den schönsten und historisch berühmtesten Teil von High-Street hinein. Die Dinge unterscheiden sich hier wesentlich von dem, was wir in Canongate gesehen. Was den Unterschied macht, das ist das Massenhafte der Bauart, der wir hier begegnen. Die grauen Quaderhäuser mit breiten, vielfenstrigen Fronten geben der ganzen Straße das Ansehn einer Reihe von Palästen.

Daß diese Paläste räuchrig und schmucklos, zum Teil schmutzig und halb verfallen sind, reicht nicht aus, der Straße diesen ihren Charakter zu nehmen. Die Häuser von Canongate gleichen vernachlässigten Sommerresidenzen, in denen der Adel früherer Jahrhunderte seinen temporären Aufenthalt nahm, hier auf dem Rücken des Hügels aber haben wir wirkliche Schlösser; hoch, fest, imposant.

 
Diesen Charakter des Schloßartigen hat die Straße in so hohe Maße, daß die stattlichen Neubauten (Bank, Börse, Rathaus, Parlament) , die man hier und dort zu beiden Seiten der Straße aufgeführt hat, nicht imstande gewesen sind, den imponierenden Eindruck des Ganzen zu steigern.

Die einzelnen Häuser zu beschreiben, ist nicht möglich. Eines gleicht dem andern. Grau, steinern, schmucklos steigen sie in die Luft, unmalerisch einzeln, aber pittoresk als Ganzes und immer wirksam durch Masse und Proportion.

 
Was ihnen bei genauerem Einblick einen aparten Zug verleiht, das sind die sogenannten »Engen«, jene wunderlichen Kreuzungsprodukte von Hof, Mauergang und Sackgasse, die unter dem Namen der »Closes von Edinburg« in ganz England eine Art von Notorität erlangt haben. Diese »Closes« sind nicht geradezu etwas Neues. Neben jenem Mischlingscharakter verdanken sie ihren Ruf wohl zumeist dem Umstande, daß es in ganz England wenig alte Städte gibt, d. h. Städte, die sich noch in ihrem ehemaligen alten Aufzuge der Welt präsentieren. In unseren alten deutschen Städten ist an solchen Closes kein Mangel; unsre »Höfe« in Wien, Augsburg, Leipzig, Danzig, sind im wesentlichen dasselbe.
 

Mit der St.-Giles-Kirche und ihrer Umgebung haben wir den Höhepunkt des Interesses erreicht, das uns die High-Street gewähren kann.

High-Street buchtet sich hier, nach Süden hin, platzartig aus; die St.-Giles-Kirche indes, die sich inmitten dieser Ausbuchtung (Parlaments-Square geheißen) erhebt und mit einer ihrer Seitenfronten bis in High-Street vorspringt, stellt dadurch die unterbrochene Straßenlinie wieder her. Wir befinden uns angesichts dieses Platzes im Mittelpunkte von High-Street und am wichtigsten Punkte Edinburgs überhaupt.

 
Die alten Kirchen wuchsen wie aus dem Leben des Volks hervor, und deutungsreich war es, wenn Bürger und Händler am Mauerwerk ihrer Kirche ihr Nest zu bauen liebten. Es war eine Verwachsenheit da, die jetzt fehlt. Kalt, sauber, sonntäglich erheben sich unsere Kirchen neben uns, und wir sehen uns in ein festtägliches Verhältnis zu jenen Plätzen gebracht, wo sonst der Umgang, die Liebe, die Vertraulichkeit, auch wohl die Ungeniertheit des alltäglichen Lebens war.
 

Wir befinden uns jetzt in gleicher Höhe mit der dritten und letzten der High-Street-Kirchen (der sogenannten Assembly-Hall, in der alljährlich die General-Synode sich zu versammeln pflegt), biegen aber, anstatt den kahlen Wänden einer neugebauten schottischen Kirche einen bloßen Anstandsbesuch zu machen, lieber in die gegenübergelegene Gasse ein.

 

 


Die Assembly Hall wurde zwischen 1842 und 1845 gebaut, war also tatsächlich bei Fontanes Besuch noch ganz neu. Seit 1999 heißt sie "The Hub" und ist das Zentrum des Edinburgh Festivals.

 

In demselben Augenblick, wo wir den Platz erreichen (Esplanade genannt), der vor dem Mauer- und Festungswerk von Edinburg-Castle sich ausdehnt, erscheinen auch, Musik vorauf, die ersten Sektionen eines englischen Regiments zu unserer Rechten und marschieren, den Platz in seiner Breite überschreitend, dem geöffneten Festungstore zu. Es sind dies die Sussex-Milizen unter Führung ihres Obersten, des Herzogs von Richmond.

 

 

Military Tattoo: Die Bermuda Regiment Band mit untypischen langen Hosen


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